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Spagat mit Folgen! Warum Dehnen manchmal schadet

Wie Du akute Schmerzzustände selbst heilen kannst

 

In diesem Blogartikel verrate ich Dir, warum engagiertes Üben mit der Blackroll oder Dehnungsübungen bei akuten Schmerzzuständen oft  nicht wirken und wie Du Verspannungen und Schmerzen am Besten mit Sanftheit statt mit Druck begegnest, damit es Dir bald besser geht.

Ich bin jetzt fast 40. Das hat mich allerdings vor ein paar Tagen nicht davon abgehalten, im Anflug von Übermut, einen Spagat zu wagen.

 

Das meine ich jetzt nicht nur auf der metaphorischen Ebene, sondern ganz körperlich. Ich wollte meine Beine genauso weit nach oben werfen können, wie die Balletttänzerinnen auf der Bühne. Da die Bewegung meines Beines nach sage und schreibe 30 cm Abstand zum Boden zu Ende war, dachte ich, das ließe sich bestimmt ändern, wenn ich nur einen Spagat übte. Als Kind konnte ich das auch, und schließlich bin ich von Fach!

 

Gesagt getan! Nachdem ich mich vorher etwas warm gemacht hatte, versuchte ich es: Ich ließ mich, mit dem rechten Bein nach vorne und dem linken nach hinten gestreckt, langsam in den Spagat gleiten.

 

Erstaunlicherweise kam ich recht weit, nur das vordere Bein wollte sich nicht so recht strecken lassen und beim hinteren zog es etwas in der Leiste. Ach was, da muss ich jetzt dranbleiben, dachte ich. Ich versuchte es auch in die andere Richtung. Also, einfach das linke Bein nach vorn und schön nach unten dehnen und das Atmen nicht vergessen. Aha, hier ging es ja noch besser! Beflügelt von soviel ungeahnter Elastizität, zeigte ich stolz meinem Mann und meiner Tochter, was die fast 40 jährige Mutti noch so alles drauf hat. 

 

Mit einem Gefühl des Stolzes und des inneren Triumphes über meinen Körper schlief ich ein und träumte von einer bevorstehenden Karriere als Prima Ballerina- bis ich am nächsten morgen erwachte.

 

Als ich aus dem Bett aufstand und meine Beine mein Gewicht tragen sollten, durchzuckte plötzlich meinen unteren Rücken ein scharfer, stechender Schmerz, der mich beinahe wie ein Klappmesser zusammenfallen ließ.

Mein Kreuzbein schien irgendwie verrutscht zu sein. Jeder Schritt tat höllisch weh und als ich mich ins Bad schleppte um mir das Gesicht zu waschen, erinnerte mich mein Rücken beim Vornüberbeugen zum Waschbecken mit einem erneuten Messerstich daran, dass irgendetwas ganz und gar nicht  stimmte. 

 

Ich bekam es mit der Angst zu tun! Was war nur plötzlich mit mir los?

 

In meiner Erinnerung suchte ich nach möglichen Ursachen für dieses merkwürdige Verhalten meines Körpers. Was hab ich gestern bloß angestellt?

 

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Oh nein, ich hab mich zu Krüppel gedehnt!

  

"Viel hilft viel, ist nicht immer das klügste Mittel"

 

Was ich hier als dramatisches Erlebnis beschreibe ist gleichzeitig ein gutes Beispiel dafür, warum engagiertes Üben mit der Blackroll oder die gutgemeinte Dehnungsübung bei Schmerzzuständen ins Gegenteil kippen können. Ich hatte zwar beim Üben keine akuten Probleme, kämpfe aber schon länger mit unbeweglichen Beinrückseiten und verspannten Adduktoren, die ich mit der Spagataktion massiv gestresst und überfordert habe. 

Was "gut gemeint" war, wurde zur Zerreißprobe für das Gewebe. 

 

Belastetes Gewebe braucht sanfte Entlastung und keinen zusätzlichen Druck

 

Da ich einen vollen Arbeitstag vor mir hatte, musste ich also schleunigst handeln. Ich hatte das dringende Bedürfnis sämtliche stellen im Gesäß und unteren Rücken mit der Rolle zu bearbeiten. Aber irgendwas in mir sagte mir, dass das keine gute Idee sei. Schließlich ist das Gewebe eh schon Überdehnt und verträgt keine weiteren Reize. Aber irgendwas musste ich tun, ich wäre sonst verrückt geworden.

 

Ich legte mich auf den Rücken und versuchte herauszufinden, welche Bewegungen überhaupt schmerzfrei möglich waren. Ich stellte die Beine auf und bewegte zuerst das linke Knie nach außen um zu testen, in wie weit die Hüft-  und Pomuskulatur betroffen war. Ich machte die Bewegung zuerst schnell und unkontrolliert und wurde sofort mit heftigen Schmerzen im ISG Gelenk bestraft. 

 

Also versuchte ich es so langsam wie es nur irgendwie ging. Und siehe da, in der Bewegung merkte ich auf einmal,  wie sich mein Körper entspannte. Durch die Langsamkeit konnte ich jeden Bewegungsmillimeter kontrollieren. Dabei spürte ich, wie das Gewebe in Gesäß und unterem Rücken etwas weicher wurde. 

 

Ich legte mein linkes Bein ab und bemerkte eine sofortige Entlastung in der gesamten linken Seite. Das war interessant, schließlich hatte ich noch gar nicht viel gemacht!

 

Mit dieser Sanftheit und Langsamkeit bewegte ich auch das andere Bein und die Hüfte. Ich bekam Minute für Minute mehr Bewegungssicherheit. Ich fand heraus, wo meine momentane Bewegungsgrenze war und akzeptierte sie.

 

"Innerhalb der Grenzen zu üben entspannt!"

 

So konnte ich zumindest schonmal auf Arbeit gehen, wobei sitzen auf meinem Therapeutenhocker extrem unangenehm war. Ich war am Abend total platt.

 

Nichts destotrotz versuchte ich wieder Übungen zu machen, welche die 3  Prinzipien befolgten:

1. langsam 

2. innerhalb der Grenzen

3. achtsam, also mit der bewusster Aufmerksamkeit

 

Achtsamkeit bedeutet so viel wie, "bewusste Kontrolle". Sie fördert das Sicherheitsempfinden des Nervensystems und die Entspannungsfähigkeit des Bindegewebes.

Ich probierte Übungen aus, die ich aus dem Yoga und Feldenkrais kannte und war dabei so achtsam und konzentriert, wie ich noch nie zuvor geübt hatte. Ich wollte auf keinen Fall eine erneute Überreizung durch Überdehnung riskieren.

 

In der Nacht war jedes umdrehen die Hölle. Ich dachte, jetzt zerreißt es mir gleich das linke ISG-Gelenk. Irgendwie hatte das bei der Spagataktion ganz besonders viel Stress abbekommen.

 

Als ich am nächsten morgen aufstand waren die erste Schritte steif und schmerzhaft. Gleichzeitig hatte ich aber das Gefühl, Herrin über die Lage zu sein. Ich hatte mehr Kontrolle über die Situation und ich kannte mich schon besser mit meinem Körper aus. Ich fühlte mich meinen Schmerzen nicht mehr so hilflos ausgeliefert, und startete den Tag mit neuem Mut.

 

Am dritten Tag versuchte ich mit Bällen zu arbeiten, die ich mir genau dort unter den Po legte, wo meine schmerzenden Muskeln gierig nach Entlastung riefen. 

 

Bewegte ich aber mein Bein zu einer Seite nach außen, um die Außenrotatoren der Hüfte zu bearbeiten, tat der Druck des Balles höllisch weh und das Gewebe wurde fest und mein Körper verspannte sich. So ging es also nicht!

 

Auf einmal schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Da ich mich mit traumatisierten Pferden beschäftige, erinnerte ich mich an ein Video das ich gesehen hatte, das zeigte, wie ein Horseman mit einem traumatisierten Pferd umging, das Angst vor einer auf dem Boden liegende Folie hatte. Er ging langsam mit dem Pferd auf die Folie zu, bis er die ersten Anzeichen einer Stressreaktion bemerkte. In dem Fall des Pferdes war es das plötzliche Heben des Kopfes. Der Horseman bemerkte diese kleine Bewegung blieb sofort stehen und wartet, bis sich das Pferd wieder entspannte, sprich den Kopf absenkte oder Abschnaubte. Danach ging er nicht gleich weiter auf die Folie zu, sondern drehte um und ging mit dem Pferd zurück zum Anfang. Er unterstütze somit kontrolliert den natürlichen Fluchtreflex des Tieres.  Dann führte er erneut das Pferd zur Folie. Und siehe da, diesmal konnte er etwas näher an das angsteinflößende Objekt mit dem Pferd herankommen, bis es eine erste Stressreaktion zeigte.

 

Das ganze widerholte er so lange, bis das Pferd ohne Anzeichen von Stress und ganz Gelassen an der Folie vorbeigehen konnte.

 

Das probierte ich jetzt aus. 

 

Als nächstes versuchte ich also das Bein so langsam nach außen zu bewegen, das es nicht schmerzte und das Gewebe den Druck des Balles ganz sanft aufnehmen konnte. So bald es unangenehm wurde wartete ich ein wenig, bis es sich beruhigte und ging dann  wieder ein Stück zurück, so dass sich mein Nervensystem durch das Weggehen vom Reiz vollständig regulieren konnte. Das ganze Vorgehen wiederholte ich etwa 10 mal und ich merkte, wie das Gewebe den Ball bei jeder Wiederholung Stück für Stück mehr akzeptierte und aufnahm.

 

Und dann passierte etwas unerwartetes. Als ich den Ball wegnahm und nachspürte lag mein Kreuzbein gefühlt 5 cm tiefer und mein unterer Rücken konnte sich zum ersten mal richtig ablegen. Mich durchflutete eine Welle der Erleichterung. Ein immenser Druck der vorher auf meinem System gelastet hatte war plötzlich verschwunden. Ich konnte es kaum glauben.

 

Sanfter Druck öffnet verschlossene Türen

 

Ich wurde neugierig und recherchierte. Just in diesem Moment entdeckte ich ein Interview von Robert Schleip vom Fasziensymposium 2020, das genau dieses Phänomen erklärt. Er fand heraus, wenn die Faszie mit sanften Druck in einem bestimmten Winkel gedehnt wird, es Einfluss auf das gesamte Fasziennetz und das vegetative Nervensystem hat. Der Körper reagiert mit Entspannungszeichen, wie unwillkürlich tiefes Einatmen und Weichwerdens des Gewebes.

 

Ich versuchte an verschiedenen Stellen mit diesem sanften Druck zu arbeiten. Auch an den Armen, Schulterblättern und Nacken und spürte regelrecht wie mein Körper aufatmete, hatte er sich doch im Nackenbereich sehr verspannt.

 

(Verspannungen im Nacken sind immer ein Zeichen dafür, dass der Körper über eine längere Zeit mit ungelösten Belastungen umgehen muss und aktuell noch keine Lösung weis.)

 

"Ich fühlte mich immer sicherer und war fasziniert von der absoluten Gewaltlosigkeit gegenüber meines Körpers"

 

Das Spagatproblem hatte ich nach circa 7 Tagen überwunden. Nachdem ich diese  Methode der 1. Hilfe, ich nenne sie Neurofasziale Entspannung, weiterhin anwendete, konnte sich mein Körper von dem Dehnungstrauma erholen.

 

Seit dem behandle ich auch meine Klienten ganz anders, wenn sie mit chronischen Schmerzen kommen und stelle ähnliche Reaktionen fest, wie bei mir. Außerdem habe ich die Zukunft als Ballerina vorzeitig an den Nagel gehängt aber nicht ohne mich bei ihr für diese wertvolle Erfahrung zu bedanken.

 

Fazit: Obwohl ich es als Therapeutin besser wissen müsste, neigte ich auch manchmal dazu meinen Körper bei diversen Übungen zu quälen und zu sehr zu fordern. Nach dem Motte: "Das muss jetzt doch gehen" oder "reiss dich doch zusammen" Oft erlebte ich am nächsten Tag statt Bewegungsfreiheit ehr eine größere Unbeweglichkeit und Steifheit. 

 

Das Schlüsselerlebnis mit meinem Spagat hat mich eines besseren belehrt: Ein gestresster und verspannter Körper braucht liebevolle Aufmerksamkeit, Sanftheit und Langsamkeit. Denn er wurde schon viel zu lange gequält und seine Grenzen überschritten. (Das Gleiche gilt übrigens auch für chronische Verspannungen. In meinem Nächsten Blogartikel schreibe ich darüber, warum man chronische Schmerzen manchmal nicht einfach wegmassieren oder wegdehnen kann.) 

 

Früher habe ich mit dem Ellbogen schmerzendes Gewebe bearbeitet und manchmal ist das nach wie vor eine  Option. Aber jetzt weiss ich auch, dass genau das Gegenteil heilsam sein kann.

  

Zugegeben, man muss sich erst mit diesen neuen kleinen, leichten, achtsamen Bewegungen vertraut machen. Aber gleichzeitig gibt es bei der Eigenübung zu Hause und dem therapeutischen Handeln eine neue Fähigkeit an die Hand. 

 

Nämlich, dass die leisen Töne eine enorme Wirkung haben. Und das das Üben bei Heilungsprozessen überhaupt nichts mit Anstrengung, sondern vielmehr mit Hinhören und der Regulation des autonomen Nervensystems zu tun hat!

 

Wenn man es einmal musikalisch ausdrücken möchte:

 

Alles nur in Forte zu spielen verträgt kein Ohr und das Gehirn schaltet nach kurzer Zeit ab. Ein Musikstück lebt von der Abwechslung der Lautstärke und der Dynamik. Und in den Pausen erwacht die Melodie in unserem Herzen zum Leben.

 

Wir bieten eine Fortbildung in Neurofaszialen Training an. Sie nennt sich Fasziencoaching. Wenn Du Interesse hast, dann kannst du dich gerne hier informieren und anmelden:  

 

Bleib neugierig

Deine Larissa

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Christel (Samstag, 29 April 2023 16:12)

    Durch Zufall kam ich auf deine Seite; ich suchte herauszufinden, warum ich vor einer Woche plötzlich wahnsinnige Schmerzen im unteren Rücken hatte. Du beschreibst genau das, was ich auch fühlte. Ich fuhr mit einem Taxi ins Krankenhaus, ließ mir eine Spritze geben, umsonst.
    Mein Auslöser, denke ich, war, dass ich nach monatelangem Nichtstun plötzlich wieder begann mit Gymnastik und Dehnen und es dabei übertrieben habe. Ich bin 75 und genau wie du beschreibst, sollte man es langsam und achtsam angehen, ich bin gewarnt! Danke für den Bericht!